Wenn ein Missbrauchsfall bekannt wird, herrscht oft erst einmal Schweigen. Vor allem auf Pfarrei-Ebene ist vielen Haupt- und Ehrenamtlern unklar, was man tun und sagen darf. „Wir müssen das Benennen üben, und zwar jetzt, damit wir, wenn wir mit einem Fall in der eigenen Pfarrei konfrontiert werden, zuhören und darüber sprechen können“, sagt Marianne Brandt.
Um das zu ermöglichen, hat sie mit vier weiteren Frauen ein Buch geschrieben: „Die verirrten Hirten“ ist am 15. November 2023 im Frankfurter Quell-Verlag erschienen. Oben auf dem schwarzen Cover, das ein weißes Labyrinth und in der Mitte ein Kreuz zeigt, steht klein: Maria 2.0 Frankfurt. Die fünf Autorinnen Kristina Brähler, Marianne Brandt, Monika Humpert, Susanne Schuhmacher-Godemann und Andrea Tichy sind bei Maria 2.0 Frankfurt engagiert, der lokalen Gruppe der bundesweiten Graswurzelbewegung, die sich dafür einsetzt, die strukturellen Ursachen von kirchlichem Missbrauch zu bekämpfen – und die unter anderem die Frauenweihe und das Ende des Zölibats fordert.
Das Buch haben sie geschrieben, um den aktuellen Stand zur Missbrauchsaufarbeitung in der katholischen Kirche in Deutschland zusammenzufassen – auch als kurzes Hintergrundwissen für Gemeindemitglieder. Dafür haben sie Informationen aus Büchern und Artikeln zusammengetragen, gegliedert, ihre eigene Haltung dazu mit hineingewoben. Auch auf eine Übersicht über die verschiedenen Missbrauchsstudien der deutschen Bistümer wird hingewiesen. „Vieles ist unübersichtlich, daher haben wir dieses Buch zum besseren Verständnis geschrieben“, erklärt Monika Humpert, im Hauptberuf Rechtsanwältin und engagiert im Pfarrgemeinderat, im Vorstand von Stadtsynodalrat und Stadtversammlung sowie im Diözesanrat.
Hilflosigkeit besiegen
Und zwar für die Menschen vor Ort, in den Pfarreien, in der Fläche. „Gerne würden wir das Buch dort vorstellen und mit den Menschen über das Thema Missbrauch ins Gespräch kommen“, bieten die Autorinnen an. Brandt, die auch Vorsitzende der Stadtversammlung der Frankfurter Katholik:innen und stellvertretende Vorsitzende des Stadtsynodalrats ist, sagt, viele Menschen in den Pfarreien würden ihrer Erfahrung nach gar nicht mehr über das Thema Missbrauch sprechen wollen, vermutlich weil sie sich hilflos fühlten.
© Quell-Verlag
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Journalistin und Herausgeberin Andrea Tichy ist die Fünfte im Autorinnenbunde.
In dem 85 Seiten umfassenden Band, der für 12,90 Euro im Handel erhältlich ist, geht es um Missbrauch als Symptom einer an eigenen Regeln wie Zölibat und Verurteilung von Homosexualität krankenden katholischen Kirche. Dem haben sich die fünf Autorinnen aus unterschiedlichen Richtungen angenähert, bringen sie doch selbst eigene persönliche Perspektiven ein: Eine ist Journalistin, eine Juristin, eine Diplom- und Sexualpädagogin, eine Theologin, eine Diplom-Kauffrau, alle engagieren sich ehrenamtlich in der Kirche. Die 13 Kapitel tragen Titel wie „Vertuschung und Unwahrhaftigkeit als System“, „Öffentlichkeit und Aufklärung zum Missbrauch in der katholischen Kirche sind weiterhin notwendig“, „Die Kirche und das Geld“, aber auch ein hoffnungsvoller Ausblick mit der Überschrift „Warum wir in der katholischen Kirche bleiben“.
Nicht mitvertuschen
Dabei sehen sich die Frauen gerade in ihrer Rolle als Laiinnen zu einer Äußerung aufgerufen. „Bisher äußern sich nur Experten und jene, die die Missbrauchsstudien schreiben, wir legen nun unsere Perspektive dazu“, erklärt Susanne Schuhmacher-Godemann, die für den Berufsverband der Pastoralreferent:innen Deutschlands am Synodalen Weg als Delegierte teilgenommen hat. „Ich habe immer noch Prof. Thomas Großbölting im Ohr, den Mitautor des Gutachtens zum Missbrauch im Bistum Münster, der die Verantwortung der Bystanders betont, also der Lai:innen, die mit vertuschten - einfach weil es schlicht nicht vorstellbar für sie ist, dass ihr Pfarrer missbrauchen könnte. Diesen Co-Klerikalismus machen wir uns nicht zueigen.“
Über die Notwendigkeit einer solchen Äußerung hatten die Frauen schon länger gesprochen; Andrea Tichy, die in Frankfurt den Quell-Verlag betreibt, schlug die Buchform vor. Den Startschuss gab schließlich im Frühsommer 2023 die Nachricht, dass Maria 2.0 mit dem evangelischen Leonore Siegele-Wenschkewitz-Preis in einer einmaligen ökumenischen Sonderkategorie ausgezeichnet würde. „Die 500 Euro Preisgeld haben wir dann ins Projekt gesteckt, das war sehr hilfreich“, erklärt Schuhmacher-Godemann.
Mit dem Buch wollen die Frauen auch nochmal unterstreichen, dass der Transformationsprozess, in dem das Bistum Limburg aktuell steckt und bei dem große strukturelle Veränderungen geschehen, eine direkte Folge der Ergebnisse der MHG-Studie ist, die den sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland und begünstigende Strukturen untersuchte und deren Ergebnisse 2018 vorgestellt wurden.
Umgang war unwürdig
Der Synodale Weg ist ebenfalls eine direkte Folge dieser Forschungsergebnisse. Schuhmacher-Godemann sagt allerdings, sie habe den Umgang mit dem Thema Missbrauch beim Synodalen Weg als unbefriedigend empfunden, ja, als unwürdig – zum Beispiel, dass Betroffenenvertreter:innen nicht von Anfang an in den Synodalversammlungen mit dabei waren und nun auch im Synodalen Ausschuss strukturell nicht vorgesehen sind. Das habe ihr den Antrieb gegeben, sich intensiv in die Quellen und Studien einzuarbeiten und zahlreiche Fragen direkt an die Deutsche Bischofskonferenz und die Deutsche Ordensobernkonferenz zu stellen.
Angst vor Hassreaktionen hat das Autorinnen-Quintett nicht: „Es ist schon ein Minenfeld“, räumt Monika Humpert ein. Dieses Wissen habe sie beim Schreiben nicht behindert, hilfreich sei aber dennoch die Beratung in der Gruppe und das gegenseitige Lektorieren gewesen. Auch Marianne Brandt hat sich vom Denken an die Reaktionen nicht abschrecken lassen: „Mir war einfach klar, dass wir dieses Buch schreiben müssen, damit das Thema auch in den Pfarreien und Gemeinden ankommen kann.“ Und Kristina Brähler ergänzt: „Aufarbeitung geschieht noch nicht zufriedenstellend. Das muss sich ändern – jeder Fall muss aufgearbeitet werden.“ Natürlich sei das ein langer Weg, der anstrengend sein werde. „Aber ich finde die Vorstellung, ihn nicht zu gehen, viel erschlagender“, so Brähler. Aufarbeitung ist für sie der Schlüssel, nicht nur für die Kirchen, sondern auch für andere betroffene Bereiche wie Spitzensport und Jugendarbeit.
Die Fachstelle gegen Gewalt im Bistum Limburg bietet Pfarreien Unterstützung in den Bereichen Prävention, Intervention, Aufarbeitung oder betroffenensensible Kommunikation an. Informationen dazu gibt es auf https://gegen-missbrauch.bistumlimburg.de.
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